Cyrano - Kinostart: 03.03.2022

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Noch eine Musicalversion eines Literaturklassikers? Muss das wirklich sein?
 
Es muss! Und dieser Film muss gesehen werden!
 
Mein Witz ist polierter als Dein Schnurrbart
 
Im Frankreich des 17. Jahrhunderts ist Cyrano de Bergerac etwas ganz Besonderes. Der Soldat der königlichen Garde ist ein großartiger Fechter und gefährlicher Kämpfer. Gleichzeitig ist er ein feinsinniger Poet. Weil er aber kleinwüchsig ist, hat er der wunderschönen und intelligenten Roxanne noch nie seine Liebe gestanden. Als Roxanne von einem einflussreichen Adeligen bedrängt wird und sich gleichzeitig in einen gutaussehenden, aber nicht besonders wortgewandten Kameraden Cyranos verliebt, greift der zur Feder und das Schicksal nimmt seinen Lauf …
 
In dieser schwierigen Zeit gehen die Menschen immer seltener ins Kino. Das ist verständlich. Aber gerade in diesen schwierigen Zeiten, kann ich all unsere Leser*innen nur beschwören, wer in diesem Jahr nur einen Film im Kino sehen will, sollte sich eine Karte für „Cyrano“ kaufen. Weil dieser Film etwas ganz Besonderes ist. Weil dieser Film die Liebe, die Kunst und das Leben feiert. Und weil dieser Film einfach wunderschön ist. Und all das brauchen wir in diesen schwierigen Zeiten mehr denn je.
 
Erica Schmidt, die bisher vor allem fürs Theater tätig war, hat ein Drehbuch geschaffen, das der altbekannten Liebesgeschichte ganz neues Leben einhaucht. Hier können wir in jeder Sekunde des Films nachvollziehen und sogar spüren, warum Cyrano seine Roxanne liebt und wie, warum und wen Roxanne liebt. Dieser Film lässt uns an der Liebe teilhaben, lässt uns die Liebe tatsächlich miterleben.
 
Ohne die Sprache des Versdramas von Rostand je ganz hinter sich zu lassen, klingen die Dialoge niemals altmodisch und doch ebenso geschliffen wie Klinge von Cyranos Schwert. Man muss kein Fan romantischer Lyrik sein, man muss sich überhaupt nicht mit Poesie beschäftigen, um sich von den Wortduellen auf der Leinwand mitreißen zu lassen und sich in Cyranos wunderschöne Briefe zu verlieben.
 
Aber „Cyrano“ verzaubert uns nicht nur mit der Liebe zwischen den Hauptfiguren oder der Liebe zur Sprache. Dieser Film vermittelt uns eine tiefempfundene Liebe, die grundlegendste Art der Liebe überhaupt: die Liebe zum Leben. Wenn wir in anderen Hollywoodfilmen sehen, wie Helden ihre Gegner metzeln als wären diese gar keine Menschen und in jedem Blockbuster Tausende Kollateralschäden wie nebenbei geschehen, lernen wir Cyrano als echten Krieger kennen. Denn nur wer die Erfahrungen eines Soldaten gemacht und gleichzeitig das Herz eines Poeten hat, kann das Leben so lieben wie Cyrano es tut.
 
In einer ebenso berührenden wie beeindruckenden Szene, ist der Held gezwungen zu töten. Der andere hat seinen Tod nicht nur selbst provoziert. Er mag ihn durch seine Niedertracht vielleicht sogar verdient haben. Regisseur Joe Wright macht alles richtig und schafft große Kunst, wenn er uns im entscheidenden Augenblick die Emotionen auf dem Gesicht des Helden zeigt. Wir fühlen zusammen mit Cyrano, das Leben ist wertvoll und jeder Tod ist bedauernswert.
 
 
Diese großen leeren Maschinen, die sich in jeder Modeböe drehen und wenden
 
Joe Wright zeigt uns nicht nur Emotionen auf den Gesichtern seiner Figuren. Er lässt seine Figuren in und durch einige der schönsten Szenerien bewegen, die wir in letzter Zeit im Kino zu sehen bekommen haben. Alles an diesem Film ist wunderschön. Wright hat uns schon in Filmen wie „Stolz und Vorurteil“ und „Anna Karenina“ großartige historische Settings gezeigt. Mit „Wer ist Hanna?“ hat er einen pittoresken Arthouse-Agententhriller geschaffen. Selbst sein sonst kompletter misslungener „Pan“ war schön anzusehen. Mit „Cyrano“ hat Wright nicht nur sich selbst übertroffen.
 
Die Drehorte in Noto, Ragusa und an anderen Orten Siziliens sind mit dem Auge eines echten Ästheten ausgewählt und ihre Bilder mit der leichten Hand eines großen Künstlers auf die Leinwand geworfen. Ich kann mich nicht erinnern, wann diese malerischen Orte jemals zauberhafter in Szene gesetzt wurden. Die Ausstattung ist superb. Sie mag nicht in allen Details absolut authentisch sein. Roxannes Haar ist viel zu locker für einen Opernbesuch zu dieser Zeit. Aber was macht das schon, wenn solche Details den Film nur noch lebendiger und schöner wirken lassen?
 
Zwei kleine Wermutstropfen mischen sich in den ansonsten so wohlschmeckenden, berauschenden Cocktail dieses Films. Wiewohl die Lieder aus der Musicalvorlage auch innerhalb des Films wunderbar funktionieren und von den verschiedenen Akteuren in einigen Fällen hervorragend interpretiert werden, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie irgendjemand auf dem Heimweg vom Kino auch nur eine der Melodien pfeift. Kaum eines dieser Lieder ist geeignet beim Autofahren, beim Lauftraining oder beim Kochen mitgesungen zu werden. Außerhalb des Films, für sich alleine klingt leider kaum einer der Songs stark genug.
 
Den zweiten Wermutstropfen mögen viele Filmfans vielleicht gar nicht herausschmecken. Mir stößt er trotzdem bitter auf. Ich bin ein großer Fan von „colorblind casting“, von mir aus auch gerne in historischen Filmen. Allerdings kann es, je nach Konstellation, zu eher ungeschickten Assoziationen führen, die sicher nicht im Sinne der Filmemacher waren. Vor einiger Zeit wirkte es in „David Copperfield: Einmal Reichtum und zurück“ doch sehr verwirrend, als eine verwitwete, weiße Frau ein Kind indischer Abstammung bekam und der anwesende Arzt auch Inder war. Sicher wollten die Macher von „David Copperfield“ nicht implizieren, der Arzt könnte der Vater sein.
 
In „Cyrano“ nun spielt der Afroamerikaner Kelvin Harrison jr. die Rolle des Christian von Neuvillette. Er wird zwar in dieser Version, anders als im Original, nicht als „arger Dummkopf“ bezeichnet. Aber das ändert nichts daran, dass wir hier einen schwarzen, ungebildeten Mann sehen, der sich nicht auszudrücken weiß und in den sich eine weiße Frau nur wegen seines exotischen Aussehens auf den ersten Blick verliebt. Der beinahe illiterate schwarze Mann wird von einem weißen Intellektuellen nicht nur ge- und belehrt. Tatsächlich übernimmt der weiße Mann die Verantwortung über das Leben des schwarzen Mannes und macht ihn zu seiner Marionette.
 
Sein Gesicht ist wie deins, brennend vor Geist und Fantasie
 
Diese Implikationen können doch definitiv nicht in der Absicht der Filmemacher gelegen haben. Kelvin Harrison jr. („Assassination Nation“) spielt die undankbare Rolle des Christian mit einer liebenswerten Aufrichtigkeit. Er vermittelt uns, wie nicht bloß Cyrano, sondern auch Christian bald unter ihrem unglückseligen Arrangement leidet.
 
Nach Filmen wie „Rogue One“, „Ready Player One“ oder “Robin Hood” sehen wir Ben Mendelsohn wieder in einer Schurkenrolle. Als Graf De Guiche wirkt er abwechselnd affektiert und gnadenlos, herablassend und rachsüchtig und erinnert durchaus an den verstorbenen Alan Rickman in einigen seiner besten Rollen.
 
Haley Bennett stahl schon vor fünfzehn Jahren als durchgeknallter Britney-Aguilera-Klon in „Mitten ins Herz – Ein Song für Dich“ ihren Co-Stars die Show und ließ beachtliches Gesangstalent erkennen. Schon in Ilya Naishullers unterschätztem „Hardcore“ war uns klar, warum der Held alles was er tat nur für die von ihr verkörperte Figur getan hat. Und nun in „Cyrano“ verlieben wir uns zusammen mit Christian und Cyrano in ihre Roxanne. Sie sprüht vor Intelligenz, sieht zauberhaft aus und hat eine Ausstrahlung der sich kein Mann entziehen kann. Bennetts Leistung ist großartig, aber das muss sie auch sein, um neben dem Star des Films bestehen zu können.
 
Peter Dinklage ist „Cyrano“. An seiner Leistung werden sich zukünftige Darsteller dieser Figur messen lassen müssen. Aber damit nicht genug. Dinklage zeigt vermutlich die großartigste, berührendste dramatische Darstellung des Jahres. Was Anthony Hopkins letztes Jahr mit „The Father“ gelungen ist, bekommen wir 2022 von Peter Dinklage geboten: einen Meilenstein der Schauspielkunst.
 
Ich selbst kannte Dinklage bisher nur aus seinen vielen Nebenrollen, von „Tiptoes“ (einem der bescheuertsten Filme aller Zeiten), über „X-Men: Days of Future Past“ zu „Three Billboards“, in denen er immer solide Leistungen gezeigt hat. Die Fernsehserie rund um Drachen. Brüste und Kaffeetassen mit Peter Dinklage habe ich nie gesehen. Vielleicht hat es geholfen, dass Drehbuchautorin und Dinklages langjährige Ehefrau Erica Schmidt die Rolle des Cyrano für ihren Mann geschrieben hat. Aber da ist noch viel mehr.
 
Dinklages Gesicht zeigt nicht einfach Emotionen. Es vermittelt uns feinste Nuancen von Gefühlen ebenso deutlich wie dramatische Ausbrüche. Dinklage kann uns mit der ganzen Bandbreite seiner Mimik begeistern, mitreißen, überwältigen und in einigen Szenen verwüsten. Wenn seinem Cyrano das Herz bricht, bricht unser Herz mit. Wenn Cyrano verzweifelt oder hilflos ist, fühlen wir uns verloren. Wir lieben mit Cyrano, wir kämpfen an seiner Seite und am Ende des Films finden wir mit ihm und durch ihn unseren Frieden.
 
So ganz nebenbei hat Dinklage eine interessante Sing- und eine noch großartigere Sprechstimme. Wenn Cyrano sich ein Wortgefecht mit einem eitlen Schauspieler liefert, möchten wir den Schauspieler gar nicht gehen sehen, damit das Gespräch nicht endet. Wenn er Christian belehrt, horchen wir auf, weil wir auch etwas lernen möchten. Und wenn Cyrano mit schwächer werdender Stimme seinen letzten Brief vorträgt, möchten wir diesen feinen, großartigen Menschen festhalten und niemals gehen lassen.
 
„Cyrano“ ist Dinklages Meisterleistung. Selten hat ein Darsteller eine solche emotionale Wirkung auf der Leinwand entfaltet. Man kann den Studiobossen und Produzenten nur raten, nach „colorblind casting“ demnächst „sizeblind casting“ zu betreiben und Peter Dinklage in so vielen anspruchsvollen Hauptrollen wie möglich zu besetzen.
 
 
Fazit
 
Nicht einfach noch eine Musicalversion eines Literaturklassikers, sondern ein Fest für alle echten Filmfans. Es gilt Peter Dinklage als einen der großartigen Charakterdarsteller unserer Zeit zu entdecken!
 
 
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Weitere Informationen

  • Autor:in: Walter Hummer
  • Regie: Joe Wright
  • Drehbuch: Erica Schmidt
  • Besetzung: Haley Bennett, Peter Dinklage