Es gibt mittlerweile tatsächlich mehr als 400 Filme und TV-Serien nach Vorlagen von Stephen King.
Und die weitaus meisten sind leider nicht besonders gelungen …
You walk as long as you can
In einer dystopischen Version der USA (oder sollte man mittlerweile schreiben, „in einer ANDEREN dystopischen Version der USA“?) dürfen jedes Jahr 50 junge Männer an einem im Fernsehen übertragenen Todesmarsch teilnehmen. Jeder Teilnehmer an „The Long Walk“ muss ab dem Start ununterbrochen mit einer Mindestgeschwindigkeit von drei Meilen pro Stunde marschieren. Tut er das nicht, erhält er nach 10 Sekunden die erste von drei Warnungen, nach weiteren 10 Sekunden die zweite Warnung. Nach weiteren 10 Sekunden wird er von den Marsch organisierenden Militärkräften erschossen. Wer am Ende übrigbleibt, wird mit Reichtum und der Erfüllung eines Wunsches belohnt …
„The Long Walk“ ist nicht nur einfach ein zutiefst berührendes Drama, eine spannende Geschichte über Freundschaft, Liebe und wie Menschen miteinander umgehen sollten und eine gruselig aktuelle Dystopie und jeder echte Filmfan sollte sich schon deshalb so bald als möglich eine Karte für diesen Film kaufen. Dieser Film zeigt auch auf recht nachvollziehbare Weise, wie einfach es sein kann, einen gelungenen Film nach einer hochwertigen Vorlage zu drehen.
Der noch recht unbekannte Drehbuchautor JT Mollner und der erfahrene Regisseur Francis Lawrence (u.a. „Constantine“ und „I am Legend“) hatten bei der Adaption von Stephen Kings frühem Werk sicher eine ganze Reihe schwierige Entscheidungen zu treffen. Und man kann nur bewundernd feststellen, wie sie zusammen immer wieder exakt richtig entschieden haben.
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King hat seinen Parallelweltroman bereits als junger Mann geschrieben und in einer verzerrten Version der frühen Siebzigerjahre spielen lassen. Mollner und Lawrence übernehmen dieses Setting eins zu eins und vermeiden auf die Art viele Probleme und mögliche Logikfehler (mobile Telekommunikation, Drohnen und andere Errungenschaften der letzten Jahrzehnte würden wesentliche Elemente der Geschichte stören oder sogar verunmöglichen). Weil sie uns eine heruntergekommene Version dieser Epoche zeigen (die wenigen Autos sind keine chromblitzenden Oldtimer und die Kleidung ist schlicht, funktional und schmucklos), lenkt uns nichts daran von der Geschichte ab.
Regisseur Lawrence ist auch einer der Produzenten des Films und aufmerksame Filmfans mögen erkennen, wie brillant er künstlerische und kaufmännische Aspekte in seinen Entscheidungen verknüpft hat. Der Film wurde offensichtlich mit überschaubarem Budget gedreht, aber Lawrence macht nicht einfach nur das Beste aus den Beschränkungen. Die fehlenden Mittel sorgen immer wieder für ein Gefühl der Leere und des Mangels in einer gescheiterten Gesellschaft. Fehlende High-Tech-Ausrüstung betont das Barbarische des Marsches. Bis zum Finale so gut wie keine Statisten am Wegesrand zu zeigen, vermittelt die Isolation der jungen Teilnehmer. Eine Szene mit zwei Kindern auf Fahrrädern wirkt zutiefst verstörend, eben weil keine anderen Schaulustigen zugegen sind.
Lawrence und Mollner wissen auch stets, was sie zu zeigen haben und was nicht. Auch wenn an einigen Stellen so einiges gezeigt wird (der Film ist nichts für Zartbesaitete), erreicht „The Long Walk“ oft dort seine größte Wirkung, wo die Kamera wenig oder gar nichts zeigt. Der Tod des viertbesten Teilnehmers ist ein Moment stiller Würde, voll Freundschaft und Verbundenheit. Einen der emotionalen Höhepunkte des Filmes bildet eine kurze Szene mit der Mutter eines Teilnehmers. Diese Szene fällt kurz aus, weil die innere Logik des Films es gebietet. Die Regeln des Marsches würden eine längere Dauer der Szene verhindern. Gerade diese abrupte, brutale Kürze der Begegnung ist es, die das Publikum die verzweifelte Hilflosigkeit der Figuren erfahren lässt.
Natürlich besteht der Film vor allem aus Szenen, in denen junge Männer marschieren und miteinander sprechen. Dazwischen kommentiert der „Major“ den Verlauf des Marsches. Trotzdem wirkt der Film kaum jemals „dialog heavy“. Stephen King war immer schon einer der besten Autoren, wenn es darum geht, Heranwachsende und ihr Verhalten, ihre Denkweise und ihre Art zu kommunizieren zu beschreiben. So wie Rob Reiner und seine Autoren vor bald vierzig Jahren in „Stand by Me“ die Dialoge der jugendlichen Protagonisten fast ungekürzt und unbearbeitet aus Stephen Kings Vorlage übernommen und damit ein zeitloses Meisterwerk geschaffen haben, so weiß auch JT Mollner an welcher Goldader er mit seinem Drehbuch schürfen durfte.
Who’s ready to fucking win?!
Auch bei der Besetzung hat Francis Lawrence alles richtig gemacht. Zunächst einmal, weil er die großartige, stets verlässliche Judy Greer in einer wichtigen Nebenrolle besetzt hat. Greer spielt seit gut zwanzig Jahren immer mal wieder Hauptrollen in Filmen, die kaum jemals jemand tatsächlich sieht. Ihre Anspruch auf Unsterblichkeit besteht aber darin, in Blockbustern, Rom-Coms, Action-Filmen, eigentlich in absolut jeder Art von Filmen immer wieder in kleinen aber wichtigen Nebenrollen zu brillieren. Auch wenn kaum jemand den Namen Judy Greer kennt, kennen wir alle ihr Gesicht. Sie war witzig in „30 über Nacht“, eine furchtbare Mutter in „Jurassic World“ und eine noch furchtbarere Ex-Frau in „Ant-Man“. Sie hat in „Two and A Half Men“ zwei verschiedene Rollen gespielt und schlüpfte bereits zweimal in das Motion-Capture-Kostüm einer Äffin in den neueren „Planet of the Apes“ Filmen.
In „The Long Walk“ hat Greer genau drei Szenen und wird uns mit dieser kleinen aber wichtigen Rolle noch lange im Gedächtnis bleiben.
Mark Hamill spielt den „Major“ die Verkörperung des Unrechtsstaates, zu dem die USA in Krisenzeiten verkommen sind. Und weil gute Filme immer fantasievoller, origineller und der Realität ganz allgemein überlegen sind, ist dieser „Major“ keine selbstgefällige Lachnummer.
Exkurs: Apropos „selbstgefällige Lachnummer“, ich wollte ja schon lange mal darüber schreiben, was für wirklich lausige Klischees die Figuren abgeben, die zur Zeit die USA und damit weite Teile der Welt in die Sch…e reiten und wie wir diese in Filmen niemals akzeptieren würden. Welche bessere Gelegenheit als „The Long Walk“ sollte sich dafür bieten? Trump ist der schleimige Boss, der alles von Papa geerbt hat und sich trotzdem für einen Macher hält, weil er sein ganzes Leben von Leuten umgeben war, die ihm immer bloß zugestimmt haben. Sowas war schon altmodisch, als solche Figuren noch Zigarre geraucht haben. Vance ist der Schleimer, der schon in der Schule als einziger über die „Scherze“ des übelsten Mobbers gelacht hat, damit er nicht Opfer eines dieser „Scherze“ wird.
Dann haben wir noch Nebenfiguren wie Jeff Bezos, der seine Arbeiter trotz Strahlenbelastung ungeschützt nach Kryptonit graben lässt. Mark Zuckerberg ist einer dieser Typen, die jede gefährliche außerirdische Lebensform und/oder Zombievirus auf die Menschheit loslassen, weil sie sich davon 12,8% mehr Profit versprechen. Und Mark Zuckerberg ist der Kerl, der mit Koks und Nutten in einem Hotelzimmer hochgenommen wird und beim Polizeiverhör ungefähr 0,3 Sekunden braucht, um alle seine Komplizen zu verpfeifen. All das würden wir doch in keinem Spielfilm mehr akzeptieren. Ich wusste immer, dass die Welt wie wir sie kennen wegen gieriger Männer untergehen wird. Aber ich hätte nie gedacht, dass das alles solche lächerlichen Klischees sein würden.
Zurück zum Film: Mark Hamill spielt hier in seiner zweiten Stephen King-Verfilmung des Jahres mit. Und wir sehen hier nichts von dem Klischee-Opa aus dem leider mißglückten „Life of Chuck“. Wir sehen auch keinen Luke Skywalker, weder jung noch alt. Wir sehen zunächst eine Figur, die sich als seelenlose Verkörperung eines Systems präsentiert und am Ende doch zwei der menschlichsten aller Eigenschaften erkennen lässt: Arroganz und Dummheit.
Auch bei der Besetzung der jungen Marsch-Teilnehmer haben die Macher von „The Long Walk“ alles richtig gemacht. Die unterschiedlich bekannten jungen Darsteller sehen aus und sprechen wie ein authentischer Querschnitt junger Männer. Ben Wang darf nach „Karate Kid: Legends“ mal in einem Film mitspielen, der wenigstens in einer möglichen Realität spielt und schlägt sich dabei sehr gut. Ein junger Mann namens Charlie Plummer spielt ein wunderbar verabscheuungswürdiges Arschloch, dessen Tod uns trotzdem zutiefst verstört. Garrett Wareing strahlt unbändigen Zorn aus, bis dieser sich im doppelten Sinne des Wortes auflöst.
David Johnsson, ein junges Talent, von dem man wohl noch viel hören und sehen wird, lässt uns das Sonnenlicht suchen und vermittelt uns, eine zutiefst positive Haltung in der tristen Welt dieses Films. Sein Ende wird jeden Filmfan, der sich einen Rest Empathie bewahrt hat, wohl am meisten beschäftigen. Cooper Hoffman („Licorize Pizza“) ist der Sohn des verstorbenen Philip Seymour Hoffman, aber wir wollen den jungen Mann nicht mit seinem Vater vergleichen. Seine Darstellung ist sanfter, viel zugänglicher als alles was uns sein Vater in jungen Jahren gezeigt hat. Seine Figur ist kein Held, sondern gleichzeitig weniger und mehr als ein Held. Gerade das macht seine Darstellung so berührend.
Fazit
Es ist eigentlich gar nicht schwer, eine gelungene Stephen-King-Verfilmung zu drehen. Man muss bloß auf die Vorlage vertrauen und sich bei allen Entscheidungen auf die Geschichte konzentrieren. Genau das haben die Macher von „The Long Walk“ getan und uns damit einen der interessantesten Filme des Jahres beschert.
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