Der nächste Schauspieler, der sich als Regisseur versucht: Nach ...
... mehreren Jahrzehnten an der Darstellerfront liefert Moritz Bleibtreu mit „Cortex“ ein beeindruckend ambitioniertes Debütwerk ab, das sich dorthin wagt, wo in Deutschland fast keiner hingeht: in den Bereich des düsteren Psychothrills.
Zwischen Traum und Wirklichkeit
Es mag ermüdend sein, weil es so oft betont wird, ist aber leider bittere Realität: Das deutsche Publikum steht Horror- und Spannungsfilmen aus heimischer Produktion, die ohnehin nicht allzu oft das Licht der Welt erblicken, seit Jahren eher skeptisch gegenüber. Wenn nicht gerade Starpower als Zugkraft dient wie im Fall von „Who Am I – Kein System ist sicher“, dann lassen sich nur wenige Menschen zu einem Kinobesuch begeistern.
Vor diesem Hintergrund ist es umso mutiger, dass Moritz Bleibtreu sein Debüt als Regisseur und Drehbuchautor mit einem Thriller gibt, der seelische Verwerfungen bebildert und sich an einer unkonventionellen Erzählweise versucht. 08/15-Kost bietet „Cortex“ definitiv nicht. Vielmehr erfordert der Film volle Konzentration und eine Lust an eigenartig verrätselten Geschichten. Wer auf den schnellen Kick aus ist, wird sicher rasch die Lust an diesem ungemütlichen Psychotrip verlieren.
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Bleibtreu selbst spielt den Sicherheitsmann Hagen, der sich fast wie ein Zombie durch seinen Alltag schleppt. Nachts wälzt er sich, geplagt von verwirrenden Träumen, schweißgebadet im Bett herum. Und tagsüber nickt er ständig weg. Seine schlechte Verfassung bereitet seiner Ehefrau Karoline (Nadja Uhl) Kopfzerbrechen. Richtig durchecken lassen will er sich allerdings nicht. Hagens Verunsicherung wächst weiter an, als er den Kleinkriminellen Niko (Jannis Niewöhner), der wiederholt in seinen Träumen auftaucht, plötzlich an seinem Arbeitsplatz zu sehen glaubt. Das, was er im Schlaf erlebt hat, scheint auf einmal Realität zu werden. Zu allem Überfluss beginnt der Jungspund offenbar auch noch eine Affäre mit Karoline. Oder bildet sich Hagen das nur ein? Realität und Fantasie verschwimmen zu seinem Entsetzen immer mehr.
Große Vorbilder
Das von Bleibtreu verfasste Filmskript konfrontiert den Betrachter mit vielen Fragen: Was verbindet die beiden Männer? Gibt es einen von ihnen vielleicht gar nicht? Träumt wirklich nur Hagen? Ist die Beziehung zu seiner Gattin tatsächlich erst angekratzt, seitdem er unter der bleischweren Müdigkeit leidet? Oder lag womöglich schon vorher einiges im Argen?
Und wie lässt sich die Wendung rund um den Mittelpunkt erklären? Ähnlich wie Christopher Nolans Amnesie-Thriller „Memento“, in dessen Handlungsstruktur sich der krankhafte Zustand der Hauptfigur spiegelt, versucht auch „Cortex“, den unheilvollen Dämmerzustand in den einer seltsamen Traumlogik folgenden Plot zu überführen.
Denken muss man angesichts der Grundkonstellation – zwei Männer, die auf geheimnisvolle Weise miteinander verbunden sind – besonders an David Lynchs Meisterwerk „Lost Highway“, das sich einer finalen Entschlüsselung verweigert, atmosphärisch aber so viel hermacht, dass man dennoch fasziniert ist. Beeinflusst haben könnte Bleibtreu zudem Nicolas Winding Refns weniger bekannter Psychothriller „Fear X – Im Angesicht der Angst“, in dem ein obsessiver Shopping-Mall-Wachmann nach dem Mörder seiner Frau sucht, wobei Wirklichkeit und Imagination schwer zu trennen sind.
„Cortex“ weckt viele Assoziationen, unterstreicht, dass der Regisseur cineastisch bewandert ist, verkommt aber glücklicherweise nie zu einer billigen Imitation. Die beklemmende, surreale Stimmung der abgründigen Erkenntnisreise zieht in den Bann und beweist: Auch aus Deutschland kann ein selbstbewusster, herausfordernder Spannungsstreifen kommen.
Erfreulich ist vor allem, wie souverän Bleibtreu mit den Stilmitteln des Kinos hantiert. Die Tonebene nutzt er, um verstörendes subjektives Empfinden zu transportieren. Der Blick in den Spiegel markiert das Auflösen der Identität. Und dank einer eigenartigen blauen Farbgebung bekommen viele Szenen auch optisch eine entrückte, traumgleiche Qualität. Die Debütarbeit sieht auf beunruhigende Weise betörend aus. Weil der Regieneuling vieles richtig macht, kann man über einige Schönheitsfehler – etwa das manchmal zu krampfhafte Bemühen um symbolische Schwere – spielend leicht hinwegsehen. Hier hat jemand Ahnung von den Ausdrucksmöglichkeiten des filmischen Mediums und sollte daher unbedingt recht bald ein zweites Projekt nachschieben.
Fazit
Moritz Bleibtreu gelingt mit „Cortex“ ein kleiner, feiner, für deutsche Verhältnisse ungewöhnlich stilsicherer Thriller, der womöglich auch nach mehrmaligem Schauen einige Geheimnisse für sich behält.
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