Jede Art von Film kann zunächst mal entweder gelingen oder misslingen.
Ob Horrorfilme gelingen oder misslingen, hängt aber zuallererst von einer grundsätzlichen Richtungsentscheidung ab, die ihre Macher sehr früh treffen müssen ...
Guten Tag, Herr König
Die siebzehnjährige Gretchen hat es nicht leicht. Ihr Vater und seine jüngere, zweite Frau haben entschieden, die Familie solle die USA verlassen und in die bayerischen Alpen ziehen. Vater und Stiefmutter wollen für Herrn König arbeiten, der dort ein Hotel betreibt und in einem nahegelegenen Krankenhaus forschen lässt. Gretchen vermisst ihre leibliche Mutter und fühlt sich in der neuen Umgebung zunehmend unwohl. Herr König scheint großes Interesse an ihrer kleinen, stummen Halbschwester zu haben. Und dann beginnt Gretchen auch noch unheimliche Dinge zu sehen und zu erleben. Und natürlich will niemand dem Teenager glauben ...
Selbstverständlich gibt es vieles, woran ein Horrorfilm scheitern kann. Wie jeder andere Film kann ein Horrorfilm aus einer Unzahl von Gründen scheitern. Aber jeder Horrorfilm ist zum Scheitern verurteilt, wenn seine Macher sich nicht entscheiden können, ob sie ihren Film ernst nehmen wollen oder nicht. Denn damit entscheiden die Macher die noch wichtigere Frage, wie ernst Ihr Film vom Publikum genommen werden soll und in weiterer Folge, wie weit der Film vom Publikum ernst genommen werden kann. Die meisten Horrorfilme sollen und können vom Publikum nicht besonders ernst genommen werden.
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Das heißt noch lange nicht, dass diese Filme weniger gut sein müssen als ernsthafte Horrorfilme. Es gibt zeitlose Meisterwerke des Horrorgenres, die niemand ernst nehmen kann, wie „Freitag der 13.“, „American Werewolf“, „Eraserhead“ oder, um mal ein neueres Beispiel zu liefern, „The Cabin in the Woods“. Und dann gibt es ernsthafte Horrorfilme, wie „Frankenstein“, „Alien“, „Der Weiße Hai“ oder „The Shining“. All diese Filme funktionieren, weil ihre Macher sich ganz zu Anfang richtig entschieden haben, wie ernst sie ihren Film nehmen wollen und wie ernst ihn das Publikum nehmen soll.
Vor einigen Jahren gab es ein wunderbar anschauliches Beispiel dafür, was passiert, wenn Filmemacher an dieser Stelle falsch entscheiden. Wenigstens die ersten drei Teile von „Nightmare on Elm Street“ sind grandiose Klassiker des Horrorfilms, weil die Macher sich von Anfang an immer bewusst waren, wie absurd ihre Filme waren. Das Remake von 2010 ist grandios gescheitert, weil seine Macher ihren Film viel zu ernst genommen haben. Das Gleiche dann auch noch vom Publikum zu erwarten, führte zu einem komplett misslungenen Ergebnis.
Der deutsche Drehbuchautor und Regisseur Tilman Singer ist noch recht jung und unerfahren. Er hat bisher nur einen Spielfilm geschrieben und inszeniert. „Luz“ von 2018 war sein Abschlussfilm an der Filmhochschule, bloß 70 Minuten lang, trotzdem unnötig verworren und wenn jemand diesen Film damals tatsächlich im Kino gesehen hat, bitte ich den/die Leser*in uns in den Kommentaren mitzuteilen, wo und wann und ob damals noch andere Leute mit im Kinosaal saßen.
Es ist also vielleicht nicht Singers Schuld, dass man ihm auf der Filmhochschule nicht beigebracht hat, was ich gerade in drei kurzen Absätzen erklärt habe. Aus welchen Gründen auch immer, Singer hat vor Beginn der Dreharbeiten zu seinem zweiten Spielfilm „Cuckoo“ leider die falsche Entscheidung getroffen. Er nimmt seinen Film viel zu ernst. Und so findet er nie den Mut den ganzen Film seiner komplett durchgeknallten Geschichte entsprechend zu gestalten und sorgt damit leider für sein Scheitern.
Und das ist wirklich bedauerlich. Denn „Cuckoo“ hätte einiges zu bieten. Nicht unbedingt die Story. Die ist nicht halb so gut, wie Drehbuchautor Singer glaubt. Die „überraschenden“ Wendungen des Films können niemanden überraschen, der mehr als fünf Filme in seinem Leben gesehen hat. Und wenn uns der Regisseur Singer diese „überraschenden“ Wendungen präsentiert, als wären diese heißer als die Schlagzeile „Nahostkonflikt beendet! Sämtliche Einwohner Israels ziehen nach Mecklenburg-Vorpommern!“, hat das schon etwas Lächerliches.
Singer hat auf der Filmhochschule auch nie gelernt, dass man beim Verfassen eines Drehbuchs nicht schalten und walten kann, wie es einem gefällt. Singers Figuren kommen und gehen und greifen in die Handlung ein, wie es dem Autor gerade in den Kram passt, nicht wie es vielleicht Sinn ergeben würde. Schwere Schuss-, Stich und andere Verletzungen haben mal gravierende und dann wieder praktisch keine Auswirkungen auf die Mobilität der Figuren. Und mehr als eine Figur in Singers Film beherrscht die Kunst der Teleportation und taucht plötzlich auf, wo sie anders nie so schnell hingekommen wäre.
Als Regisseur trifft Singer einige interessante Entscheidungen, die er aber wohl nur selten zu Ende gedacht hat. Obwohl unter anderem die Verwendungen von Smartphones den Film in der Gegenwart spielen lässt, wirkt die Ausstattung des Hotels und des Krankenhauses komplett altmodisch. An der Rezeption gibt es keinen Computer und die Anmeldung der Gäste wird handschriftlich erledigt. Niemand, nicht einmal Gretchens Vater fährt ein Auto das nach 1986 gebaut wurde und im Krankenzimmer steht ein winziger Röhrenfernseher.
All diese altmodische Ausstattung wirkt zunächst stimmig, weil sie den Eindruck der jungen Frau aus den USA wiedergibt, in einer fremden und furchtbar altmodischen Gegend angekommen zu sein, in der sie sich nicht zurechtfinden kann. Aber warum hat dann die Mutter des Teenagers zuvor bereits in den Staaten einen Anrufbeantworter benutzt, der so antiquiert aussieht, dass man sich fragt, ob sie ihn gebraucht von Jim Rockford gekauft hat (das war mein Witz für die älteren unter unseren Leser*innen. Gern geschehen).
Und warum tauchen in diesem Film sämtliche Nebenfiguren immer so furchtbar überraschend hinter oder neben der armen Heldin auf, das sie gar nicht anders kann, als ständig zu erschrecken? Selbst Figuren die sicher gar nichts mit dem Bösen zu tun haben, das da in den bayerischen Alpen sein Unwesen treibt? Das ist sicher belastend für die unbedarfte und verwirrte Hauptfigur des Films. Das Publikum wird davon aber sicher nicht erschrecken, sondern bloß bald genervt sein. Auch ein mehrmals eingesetzter Effekt, bei dem sich Geschehen innerhalb weniger Sekunden öfter wiederholt, wirkt nicht bedrohlich, sondern eher wie ein recht lahmes TikTok-Video (und das war der Witz für die Generation Z. Bei cinepreview.de ist eben immer für alle demografischen Gruppen etwas dabei).
Konzentration bitte!
In diesem Durcheinander aus Drehbuchwillkür und unausgereifter, schlecht durchdachter Regie schlagen sich die Darsteller unterschiedlich gut. Marton Csokas hat sich bereits in „Der Herr der Ringe“ an der Seite der großartigen Cate Blanchett bewähren können. Und seine bedrohliche Präsenz war das Beste an der überlangen Gewaltorgie „The Equalizer“. Hier kann er als Vater leider keinerlei Wirkung entfalten. Jessica Henwick („Love and Monsters“) gestaltet die generische Rolle der verständnislosen, doofen Stiefmutter leider eben auch bloß generisch. Der Deutsche Jan Bluthardt spielt eine Rolle, die wir in Tausenden von Filmen schon gesehen haben. Und in den meisten dieser Filme war sie besser dargestellt.
Dan Stevens kennen wir aus „Downton Abbey“, aber auch aus Filmen wie „Ruf der Wildnis“ oder zuletzt „Godzilla × Kong: The New Empire“. Stevens ist ein Vollprofi und hat als solcher offensichtlich früh erkannt, was sein Drehbuchautor und Regisseur nicht erkannt hat und genau die richtige Entscheidung getroffen. Er spielt Herrn König als lächerliche Mischung aus Bond-Bösewicht und Mad Scientist weil diese Figur genau das und nichts anderes ist.
Wenn „Cuckoo“ doch noch halbwegs sehenswert ist, dann hauptsächlich wegen der Leistung von Hunter Schafer. Nachdem ich die Fernsehserie „Euphoria“ nur vom Hörensagen kenne und nicht ich, sondern einer meiner begabten Kollegen über „Die Tribute von Panem: The Ballad of Songbirds & Snakes“ berichtet hat, habe ich diese begabte junge Darstellerin hier zum ersten Mal wahrgenommen.
Schafer vermittelt uns nicht nur den Unwillen einer jungen Frau, sich in die Pläne anderer zu fügen, nicht nur ihre Verwirrung, ihre Trauer und ihre Angst. Wenn Gretchen im Laufe des Films zur Kämpferin wird und Verantwortung übernimmt, lässt Hunter Schafer uns jeden Schritt dieser Entwicklung nachfühlen. Eine beachtliche Leistung, wenn man bedenkt, dass die meisten Teile des Films um sie herum nicht richtig funktionieren. Man wünscht ihr recht bald eine besser geschriebene Hauptrolle unter besserer Regie.
Fazit
Tilman Singer hätte seinen Film niemals so ernst nehmen dürfen, wie er es getan hat. Oder er hätte ein komplett anderes Drehbuch schreiben müssen. Wenn eine dünne Handlung keinen Sinn ergibt und der Regisseur diese auch noch schlecht durchdacht in Szene setzt, kann auch die begabte Hauptdarstellerin den Film kaum noch retten.
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