In voller Blüte - Kinostart: 23.11.2023

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Michael Caine hat angekündigt, nach diesem keine Filme mehr drehen zu wollen.
 
Glenda Jackson ist im Sommer dieses Jahres verstorben. Stellt „In voller Blüte“ einen würdigen Abschluss dieser Karrieren dar?
 
What a waste!
 
Ein alter Mann steht an einem Strand. Er blickt gedankenverloren und ein wenig traurig aufs Meer hinaus. In den folgenden Szenen sehen wir Bernard Jordan zurückhaltend freundlich an einem Kiosk agieren und fröhlich Bewohner und Personal in dem Seniorenheim an der britischen Küste begrüßen, in dem er mit seiner Ehefrau wohnt. Wir sehen, wie er seine pflegebedürftige Frau auch nach über siebzig Jahren immer noch liebt und sich ganz selbstverständlich um sie kümmert. Selbst zu den Feierlichkeiten des siebzigsten Jahrestags der Invasion in der Normandie will Bernie seine Irene nicht alleine lassen. Aber Irene weiß, was ihr Bernie zu tun hat ...
 
Ich weiß, ich sollte nicht immer mit der Arbeit von Studios und Verleihfirmen hadern. Und ich weiß auch, ich sollte nicht immer wieder die Ignoranz und Oberflächlichkeit vieler Filmkritiker beklagen. Aber es ist nicht meine Schuld, wenn der neue Film mit Michael Caine und Glenda Jackson mir eine so hervorragende Gelegenheit zu beidem bietet.
 
Treue Leser*innen wissen, wie oft ich mich über unnötig dumme deutsche Verleihtitel beklage. Und ich wollte auch daran arbeiten, diese Angewohnheit abzustellen. Aber „The Great Escaper“ (so der englische Originaltitel) unter dem irreführenden Titel „In voller Blüte“ in den deutschen Kinos laufen zu lassen, ist die mit Abstand blödeste Entscheidung, seit man „The Living Daylights“ bei uns unter „Der Hauch des Todes“ laufen ließ und man damit dem armen James Bond eines seiner Wortspiele ruiniert hat.
 
Wer auch immer für den deutschen Verleihtitel von „The Great Escaper“ verantwortlich ist, hat nicht nur keinerlei Ahnung von Filmen. Sonst hätte er das Wortspiel mit „The Great Escape“ erkannt (dessen deutscher Titel, „Gesprengte Ketten“ belegt, dass früher keineswegs alles besser war). Dieser Klassiker von John Sturges zählt auch sechs Jahrzehnte nach seiner Erstveröffentlichung immer noch zu den beliebtesten Filmen des Vereinigten Königreichs.
 
Aber die Person, die sich „In Voller Blüte“ ausgedacht und durchgesetzt hat, hat nicht nur keine Ahnung von Filmen. Diese Person hat auch keine Ahnung, wie man sich einen Film richtig ansieht. Denn obwohl der rüstige Bernie im Film von den Medien immer wieder als „The Great Escaper“ bezeichnet wird (was unserem Marketinggenie komplett entgangen ist), vermittelt dieser wunderschöne sanfte Film aufmerksamen Betrachter*innen, wie vielem in seinem Leben der arme Bernie leider NICHT entkommen konnte.
 
Bernie steht eben NICHT „In voller Blüte“. Weil er zu der Generation gehört, in der Männer über alles sprechen, nur nicht über das, was sie tief drinnen bewegt, bricht es erst ganz am Ende des Films aus ihm heraus, wie er mit dem Altern und nachlassender Gesundheit hadert. Deshalb sollte man auch den Trailer und die Werbekampagne zum Film ebenso ignorieren wie den deutschen Titel.
 
Eine kleine Anekdote für alle, die meinen, ich würde die Maßnahmen des Verleihs zu hart beurteilen: Nach der Pressevorführung konnte ich hören, wie ein anderer Filmkritiker meinte, der Film sei eben eine nette Komödie für ältere Leute. Geschockt blieb ich stehen und musste weiter zuhören. Der Kritiker verglich den eben gesehenen Film mit Filmen wie „Enkel für Anfänger“ und „Book Club“. Wie groß ist der Einfluss der Marketingmaßnahmen, wenn sogar erfahrene Filmkritiker verblendet vom unpassenden Titel und dem banalen Trailer einen Film komplett missverstehen können?
 
Um das Missverständnis klarzustellen, dem sowohl der Verleih als auch andere Kritiker aufgesessen sind: „The Great Escaper“ ist sicher KEINE „Best-Ager-Comedy“. Denn für Bernie ist das hohe Alter keineswegs das beste Alter. Und komisch kann er daran nur wenig finden. Er macht bloß das Beste daraus. Weil das genau das ist, was viele Angehörige seiner Generation immer gemacht haben: Das Beste aus etwas machen, das nicht gut ist.
 
Aber das Alter ist nicht das einzige, dem Bernie nicht entkommen kann. Der alte Mann muss erkennen, dass er seinem Trauma nicht entkommen kann. Trauma und Verantwortung sind die zentralen Themen dieses Films. Beidem kann niemand entkommen. Und diese universellen Themen können doch wohl jede Generation ansprechen. Oder besser gesagt, sie könnten jede Generation ansprechen. Wenn der Verleih den Film bloß richtig vermarktet hätte.
 
 
I couldn’t leave you all on your own
 
Wenn der Verleih den Film bloß richtig vermarktet hätte, dann könnten unterschiedliche Generationen sehen, wie eine großartige Besetzung eine bestenfalls mittelmäßige Regie im wahrsten Sinne des Wortes „überspielt“. Oliver Parker („Johnny English – Jetzt erst recht!“) weiß zwar nicht, dass er die aufdringliche Filmmusik von Craig Armstrong („Der Große Gatsby“) besser sparsamer eingesetzt hätte. Aber wenigstens weiß er, wen er vor der Kamera hat. Und Parker weiß auch, dass er diese beiden Legenden am besten das tun lässt, was sie jahrzehntelang meisterlich getan haben. Daher wirkt sein Film immer dann am besten, wenn er einfach die Kamera auf seine Protagonisten richtet.
 
In der Szene, in der Bernie erfährt, dass er sich zu spät angemeldet hat und daher nicht an den Feierlichkeiten in der Normandie teilnehmen kann, ist Michael Caines Gesicht vielleicht knappe zwei Sekunden auf der Leinwand zu sehen. In diesen zwei Sekunden vermittelt Caine uns Enttäuschung, Erleichterung, Traurigkeit, ein tiefes Gefühl der Verantwortung und noch mehr. Und all das nur mit einigen winzigen Veränderungen seines Blickes.
 
Michael Caine ist der letzte Vertreter einer Generation von britischen Darstellern aus einfachen Verhältnissen, die während der Fünfziger und Sechziger zu Weltruhm gelangten. Seine Kollegen waren in der Wahl ihrer letzten Rollen teilweise ungeschickt. Die letzten vier oder fünf Filme von Peter O’Toole hat praktisch niemand gesehen. Roger Moores letzter Filmauftritt war in einem TV-Remake von „The Saint“, das so schlecht war, dass man es erst mehre Jahre nicht gezeigt hat, bevor man es anlässlich Roger Moores Tod gesendet hat. Und Sean Connerys letzter Film war „Die Liga der außergewöhnlichen Gentlemen“.
 
Michael Caine zeigt in „The Great Escaper“ eine seiner besten Darstellungen seit langem. Er spielt immer zurückhaltend und trägt nie zu dick auf. Er schafft es, einen verschlossenen Menschen für uns zugänglich darzustellen. Sir Michael ist mittlerweile neunzig Jahre alt. Er will nach diesem keine weiteren Filme mehr drehen. Sollte er bei seiner Entscheidung bleiben, würde dieser Film einen würdigen Abschluss seiner langen Karriere darstellen.
 
Glenda Jackson war von den frühen Sechzigern bis Ende der Achtziger einer der größten weiblichen Stars des britischen Films. Sie hat unzählige Schauspielpreise für die unterschiedlichsten Rollen gewonnen, unter anderem zweimal den Oscar. Mit Michael Caine war sie bereits 1975 in „Die romantische Engländerin“ zu sehen. 1991 zog sie für die Labour Party ins britische Unterhaus ein und wurde mehrmals wiedergewählt, bis sie 2015 als Altersgründen ihren Rückzug aus der Politik bekannt gab. Seither war sie in zwei kleineren britischen Produktionen zu sehen. Sie starb am 15. Juni 2023.
 
In „The Great Escaper“ zeigt sie eine bewegende Leistung. Wie sie als geduldige Ehefrau seit Jahrzehnten die Scherze und die Verschlossenheit ihres Mannes gleichermaßen erträgt, ist berührend. Ihr weises Gesicht lässt uns erkennen, wie viel mehr sie über ihren Mann weiß, als dieser je aussprechen wird. Wenn die hochbetagte Dame in Erinnerung an ihre Jugend drei holprige Tanzschritte hinlegt, tanzt sich Glenda Jackson in unser Herz hinein.
 
Wenn Irene ihren Bernie behutsam dazu bringt, bestimmte Dinge nach vielen Jahrzehnten endlich auszusprechen, möchte man sich eine solche Ehefrau, Mutter oder Großmutter wünschen, je nachdem welcher Generation man angehört. Man kann nur hoffen, dass sich möglichst viele Vertreter unterschiedlicher Generation trotz der ungeschickten Entscheidungen des Verleihs in diesen Film verirren. Und sei es nur, um Glenda Jacksons Darstellung und den Abschluss ihrer langen Karriere würdigen zu können.
 
 
Fazit
 
Ein würdiger Abschluss zweier Weltkarrieren und ein zutiefst berührender Film. Bitte nicht von dem dummen deutschen Titel ablenken lassen.
 
 
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Weitere Informationen

  • Autor:in: Walter Hummer
  • Regie: Oliver Parker
  • Drehbuch: William Ivory
  • Besetzung: Michael Caine, Glenda Jackson