Das Rätsel - Kinostart: 01.06.2023

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Ein guter Krimi sollte sich immer mit den Fragen beschäftigen, wer hat etwas ...
 
... getan, warum und wie. „Das Rätsel“ lässt uns lange Zeit sogar im Unklaren, WAS getan wurde ...
 
The man who did not want to die
 
Ein Verleger kündigt den dritten und letzten Teil einer weltweit erfolgreichen Serie von Kriminalromanen an. Das Buch soll im französischen Original und in den neun wichtigsten anderen Sprachen gleichzeitig erscheinen. Um das zu bewerkstelligen lassen sich neun Übersetzer vom Verleger in einen Luxus-Bunker sperren. Isoliert und streng bewacht sollen sie alle gleichzeitig ihre Übersetzungen anhand des einzigen Originals verfassen. So scheint die Möglichkeit eines Lecks völlig ausgeschlossen. Doch dann erscheinen die ersten 10 Seiten des Romans im Internet und der Verleger wird erpresst ...
 
Frage an die geneigte Leserschaft: Wann haben wir zuletzt einen echten Krimi im Kino gesehen? Nein, „Fast & Furious 10“ zählt nicht. Wer das als „Krimi“ bezeichnet, hält Pornos auch für „Liebesfilme“. Und auch Thriller wie „Inside“ oder „Knock at the Cabin“ sind nicht gemeint, auch wenn darin Verbrechen begangen werden. „Missing“ war so ziemlich der einzige Film, über den wir dieses Jahr berichtet haben, der als Krimi durchgehen würde. Aber bloß mal eben so.
 
Das Thema eines Krimis sollte immer ein Verbrechen und seine Aufklärung sein. Wenn der Täter von Anfang an bekannt ist, muss die Frage, ob und wie er überführt wird, für Spannung sorgen. Hitchcocks „Cocktail für eine Leiche“ ist ein bekanntes Beispiel für dieses Muster, die Fälle von Inspector „Columbo“ sind weitere.
 
Das klassische Muster ist aber der „who did it“, in dem der Täter lange unbekannt bleibt. Fast alle Krimis von Agatha Christie und deren Verfilmungen, wie „Mord im Orient Express“ folgen diesem Muster. „Der Name der Rose“ wäre ein gutes Beispiel aus dem späten 20. Jahrhundert. 2020 haben wir über „Knives Out“ berichtet und letztes Jahr über „See How They Run“.
 
Die Frage, „Wer hat es getan?“ muss uns während des größten Teils des Films beschäftigen und die Auflösung am Ende hat uns zu überraschen. Sonst taugt ein „whodunit“ nichts. Bei „Das Rätsel“ haben es sich Regisseur und Co-Autor Régis Roinsard und die beiden anderen Autoren Romain Compingt und Daniel Presley, die bereits bei „Mademoiselle Populaire“ zusammengearbeitet haben, nicht leicht gemacht. Sie beschäftigen uns zusätzlich zur Frage nach dem „wer“ auch noch mit den Fragen nach dem „wie“, dem „warum“ und recht bald auch nach dem „was“.
 
Ich möchte den geneigten Leser*innen davon abraten, den Trailer zum Film zu sehen. Wie in den meisten modernen Trailern wird darin zu viel vorweggenommen. Wer den Film unvorbereitet sieht, bekommt in „Das Rätsel“ etwas Besonderes geboten. Der Film vermittelt erst, er würde die Aufklärung eines bestimmten Verbrechens behandeln, doch dann geht es eher um die Aufklärung eines anderen Verbrechens.
 
Dann ist ein weiteres Verbrechen begangen worden. Und am Ende stellt man fest, eines dieser Verbrechen ist entweder nicht begangen worden oder war gar kein Verbrechen. Dabei geht Regisseur Régis Roinsard erfrischend anders vor, als andere moderne Filmemacher. Klassisch sachlich, fast nüchtern wird die Geschichte erzählt. Trotz der ungewöhnlichen Ausgangssituation (die übrigens so ähnlich tatsächlich für die Übersetzungen von Dan Browns „Inferno“ geschaffen wurde) und des ungewöhnlichen Settings wirkt der Film stets realistisch. Roinsard verzichtet auf die Taschenspielertricks von Filmen wie „Missing“. Er lässt auch kein Star-Ensemble eine Boulevard-Komödie aufführen, wie in „Knives Out“. Er bietet nicht einmal einen genialen Ermittler, wie in „Mord im Orient Express“.
 
Nur der begrenzte Ort der Handlung und die darin eingeschlossenen Figuren sind es, die hier für Spannung sorgen. Und Roinsard hat ein gutes Gespür, was funktioniert und was nicht. Er arbeitet tatsächlich klassisch filmisch. Der Ort der Handlung wird mit wenigen Worten beschrieben und dann vor allem gezeigt. Und auch bei seinen zehn Protagonisten geht er ähnlich vor.
 
Roinsard begeht nicht den Fehler vieler moderner Filmemacher, jede einzelne Figur endlos lange einzuführen und sie, ihre Geschichte und ihre Situation im Dialog erklären zu lassen. Wie ermüdend und der Spannung abträglich das gerade bei einer großen Zahl von möglichen Tätern wirken kann, hat er (und wir alle) bei Agatha-Christie-Verfilmungen gelernt. Seine Figuren sind da. Und werden von Schauspieler*innen dargestellt. Manche haben mehr Szenen und wir bekommen mehr von ihrem Verhalten mit, andere haben weniger Szenen und trotzdem können wir sie einschätzen.
 
Ganz ohne erklärenden Dialog kommt der Film natürlich nicht aus. Am Ende wird ein bisschen viel erklärt. Aber das ist der Formel geschuldet. Und nicht jede Überraschung fällt gleich überraschend aus. Dass eine der Figuren lange vor dem Übersetzungsauftrag zum Mörder geworden war, sollte bereits lange vor der Enthüllung klar sein. Und natürlich muss sich die Polizei dumm anstellen. Auch das ist ein Gebot des Genres. Hier ist am Ende aber unklar, was die Polizei erreichen will und warum.
 
 
What the world needs now is love
 
Aber derlei Unzulänglichkeiten werden vom Ensemble in den Hintergrund gedrängt. Roinsard hat in den Nebenrollen fähige, aber eher weniger bekannte internationale Darsteller*innen besetzt. Die deutsche Übersetzerin wird von Anna Marie Sturm dargestellt, die in Deutschland aus der „Beste Zeit/Gegend/Chance“-Trilogie von Marcus H. Rosenmüller bekannt ist. Für das internationale Publikum ist sie aber ein perfektes weißes Blatt Papier. Sie kann sich im Film als Opfer oder Täterin herausstellen oder Zeugin bleiben. Wer weiß?
 
Das Gleiche gilt für fast alle anderen Nebenrollen. Aufmerksame Filmfans kennen Riccardo Scamarcio vielleicht aus „John Wick: Kapitel 2“ oder „Dalida“. Aber in „Das Rätsel“ fragt man sich lange, wie sein Verhalten zu deuten ist. Steht er auf der Seite des Verlegers? Kann er wirklich so servil sein? Oder will er nur ablenken? In wenigen Szenen vermittelt Scamarcio gleichzeitig einen interessanten Charakter und ein weiteres Rätsel.
 
Olga Kurylenko („Ein Quantum Trost“) wirkt zunächst etwas ungeschickt und unsicher in ihrer Rolle der russischen Übersetzerin. Aber ist das vielleicht beabsichtigt und es ergibt Sinn, ihre Figur so und nicht anders wirken zu lassen?
 
Alex Lawther („The End of the F***ing World”) hat einen der schwierigsten Jobs im Film. Viel lastet auf seinen schmalen Schultern. Aber Lawther schlägt sich wacker und bringt Logik ins Chaos. Für ein oder zwei kleine Ungereimtheiten seiner Figur liegt die Schuld beim Drehbuch, nicht beim Darsteller.
 
Lambert Wilson ist in Frankreich seit langer Zeit ein Star. Als junger Mann waren seine markanten Züge in „Louis’ unheimliche Begegnung mit den Außerirdischen“ und „La Boum 2“ zu sehen. International kennen ihn die meisten Filmfans als Merowinger aus drei von vier „Matrix“-Filmen. Seine bisher größte Leistung hat er wohl in dem Meisterwerk „Von Menschen und Göttern“ gezeigt.
 
Hier trägt Wilson als skrupelloser Verleger den größten Teil des Films. Hätte seine Figur nicht funktioniert, hätte der Film nicht funktionieren können. Aber Wilson sorgt mühelos für das Funktionieren seiner Figur. Er vermittelt die kühle Gier des kapitalistischen Raubtiers, den totalen Fokus auf Gewinnoptimierung um jeden Preis.
 
 
Fazit
 
Der Name ist Programm. „Das Rätsel“ stellt Fragen nach dem „wer“, dem „wie“, dem „warum“ und dann noch nach dem „was“. Ein Film der tatsächlich Fragen stellt und sein Publikum nicht für dumm verkauft, ist ein seltenes Vergnügen und auf jeden Fall den Preis einer Eintrittskarte wert.
 
 
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Weitere Informationen

  • Autor:in: Walter Hummer
  • Regie: Régis Roinsard
  • Drehbuch: Régis Roinsard
  • Besetzung: Olga Kurylenko, Lambert Wilson