Windstill - Kinostart: 11.11.2021

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Mit jungen Menschen muss man oft Geduld und Nachsicht haben.
 
Und natürlich gilt das auch für die Filme junger Filmemacher*innen …
 
Generation Selbstmitleid
 
Sommer in München: Lara ist eine junge Mutter, der alles zu viel wird. Jacob, der Vater des Kindes, arbeitet als Koch. Auch er ist überfordert. Laras Schwester Ida bewirtschaftet den Hof der Familie in Südtirol, obwohl sie lieber Schriftstellerin wäre. Keiner der Protagonisten lebt das Leben, das er leben möchte. Jeder ist unzufrieden …
 
Regisseurin und Autorin Nancy Camaldo hat bisher einige Kurzfilme gedreht. „Windstill“ ist ihr erster Spielfilm und gleichzeitig ihre Abschlussarbeit für die Hochschule für Film und Fernsehen in München. Welche Note sie dafür bekommen hat, ist unbekannt. Aber der Film lief auch auf bereits dem Filmfestival Max Ophüls Preis und war dort für verschiedene Preise nominiert. Dieses Festival würdigt Nachwuchsfilmemacher*innen und mit dieser wichtigen Arbeit soll es auch gerne weitermachen.
 
Es bleibt abzuwarten, ob das Publikum ebenso viel Geduld und Nachsicht zeigen wird, wie die Prüfungskommission der Hochschule und die Organisatoren des Festivals. Denn Geduld und Nachsicht braucht man, um „Windstill“ würdigen zu können. Unter anderem weil die Exposition fast die halbe Laufzeit des Films einnimmt. Das wäre halb so wild, wenn wir die Figuren und ihre Situation dadurch kennenlernen würden, um sie verstehen zu können. Leider ist das nicht der Fall.
 
Es wird nie recht erklärt, warum eine intelligente, junge Frau im 21. Jahrhundert ein Kind haben musste, wenn sie dafür offensichtlich nicht reif war. Über die Beziehung von Lara und Jacob erfahren wir nichts, außer dass sie offensichtlich nicht funktioniert. Und warum meint Ida, den Hof der Eltern weiter bewirtschaften zu müssen? Warum kann sie nicht schreiben und den Hof bewirtschaften? Wenn man viel Geduld hat, hört man gegen Ende des Films ein paar Dialogstellen, die vielleicht etwas erklären oder auch nicht. Aber kennenlernen werden wir diese drei Personen nie richtig.
 
Vielleicht kennen diese Personen sich selbst nicht. Nancy Camaldo zeigt uns ständig die drei Hauptfiguren. Vor allem Lara sehen wir in allen möglichen Situationen. Wir sehen die junge Mutter beim Duschen, wir sehen sie auf der Toilette, wir sehen sie in Unterwäsche. Nachsichtig könnten wir annehmen, Camaldo zeigt uns diese Figuren absichtlich in jeder Lebenssituation ohne dass wir sie dabei jemals richtig kennenlernen. Das könnte eine Kritik an der Oberflächlichkeit unserer Gesellschaft sein. Wir bekommen alles gezeigt, aber lernen niemanden kennen.
 
Wie bereits erwähnt, sehen wir immer die drei Hauptfiguren. Der Film spielt in Südtirol und München. Aber sowohl die Stadt als auch das Land werden nie richtig in Szene gesetzt. Ja, Lara fährt einmal im Taxi über die Ludwigstraße. Aber das ist nun mal Bedingung, wenn man für seinen Film Bayerische Filmförderung erhalten will. Und Ida sehen wir beim Kite-Surfen am Reschensee. Aber den Reschensee oder das Land Südtirol sehen wir kaum. Lassen wir uns noch einmal von Geduld und Nachsicht leiten. Vielleicht will uns Camaldo zeigen, dass diese Figuren nicht Teil ihrer Umgebung sind.
 
Aber Camaldo zeigt uns auch sonst nicht viel, außer ihren Figuren. Ein Unfall, bei dem ein Hund verletzt wird, ist nicht zu sehen. Jemand spricht darüber, telefoniert zu haben. Aber wir sehen und hören keines der Telefongespräche. Ein (Beinahe-)Unfall mit einem Radfahrer, der für eine der Figuren offensichtlich das Fass zum Überlaufen bringt, ist auch nicht zu sehen. Wir sehen immer nur die Reaktionen der Figuren auf Ereignisse. Sollen wir hier Figuren gezeigt bekommen, deren Wahrnehmung nur auf sie selbst beschränkt ist? Oder kann Camaldo einfach kein Geschehen zeigen?
 
 
Why Generation Y?
 
Jeder Filmfan muss selbst wissen, wo er oder sie bei diesem Film an die persönlichen Grenzen von Geduld und Nachsicht stößt. Bei mir waren diese Grenzen schon strapaziert, als die junge Mutter ihre kleine Tochter wortlos zurückgelassen hat, um die eigene Schwester auf dem Bauernhof der Familie zu besuchen. Klar, das war die dringend benötigte dramatische Aktion, die endlich die Handlung in Gang bringen sollte. Aber ich wusste zu dem Zeitpunkt nichts über diese Lara. Also sollte ich nun Mitleid mit ihr haben? Die Frau tat sich doch selbst schon genug leid. Sollte ich Verständnis haben? Wie denn, wenn ich nichts über diese Frau weiß?
 
Vielleicht sollte ich eher Verständnis mit Ida haben. Aber nach einer Stunde war gerade mal das Verwandtschaftsverhältnis der beiden Frauen geklärt. Warum Ida den Hof bewirtschaftet statt ein Buch zu schreiben, war zu diesem Zeitpunkt noch lange nicht klar. Oder sollten wir Verständnis mit Jacob haben? Auch über ihn wusste ich zu dem Zeitpunkt bloß, dass auch er unzufrieden ist. Aber sonst wusste ich nur, dass er wohl nicht sehr gut in seinem Job ist und mit einer Kellnerin Sex hatte.
 
Geduld und Nachsicht werden auch arg strapaziert, wenn Nancy Camaldo uns hier wohl ein modernes, anspruchsvolles Drama über unzufriedene, junge Menschen bieten möchte und sich dabei einer Vielzahl uralter Filmklischees bedient. Die männlichen Figuren des Films „wollen nur ficken“ (=wörtliches Zitat). Anderseits sind sie aber so unsensibel, dass sie körperliche Bedürfnisse von Frauen gar nicht wahrnehmen. Jacob kratzt der Mutter seiner Tochter genau vier Sekunden lang gelangweilt den Rücken, bevor er sich verabschiedet. Als sie Sex will, schläft er ein. Es tut mir leid, aber Männer als unsensible Idioten zu zeigen, wertet die weiblichen Figuren nicht auf.
 
Auch der Aufbruch und die Flucht der jungen Mutter sind nicht wirklich zu sehen. Wir sehen nur den Mann, der in einer einzigen langen Einstellung mit dem kleinen Kind auf die davongelaufene Lara wartet. Lara selbst sehen wir erst im Bus nach Südtirol. Dort steigt der attraktive Sitznachbar zufällig an der gleichen Haltestelle aus. Lara bittet ihn, sie auf eine Party mitzunehmen. Auf dieser Motto-Party müssen sich Frauen als Männer verkleiden und umgekehrt. Vertauschte Geschlechterrollen also. Man kann eine feministische Botschaft auch sehr viel eleganter vermitteln.
 
Viel weniger plump geraten ist eine einzelne, stille kleine Szene, in der Jacob im Bett hinter seiner Tochter Kissen platziert, um die Abwesenheit der Mutter zu kompensieren. Leider kann diese Szene die vielen großen und kleinen Fehler des Films kaum ausgleichen. Viele Szenen und Figuren, wie zum Beispiel die libidinöse Kellnerin, führen nirgendwohin. Der Betrachter sucht nach Entwicklungen und Zusammenhängen. Am Ende wirkt es dann schon irritierend, wenn man die gleiche Statistin in der U-Bahn und später nochmal in einem Restaurant sieht.
 
Geduld und Nachsicht muss man auch mit der Besetzung haben. Giuilia Goldhammer und Barbara Krzoska spielen die beiden ungleichen Schwestern. Goldhammer überzeugt nicht als Mutter und Krzoska überzeugt nicht als Landwirtin. Aber vielleicht ist auch das Absicht, weil keine der beiden Figuren das sein will, was sie ist. Warum die beiden Schwestern aber so unterschiedlich sprechen und keine der beiden auch nur so ähnlich klingt, als wären sie in Südtirol aufgewachsen, ist dann auch mit Geduld und Nachsicht nicht mehr zu erklären.
 
Thomas Schubert war großartig in Karl Marcovics‘ „Atmen“. Vielleicht müssen wir mit Regisseurin und Autorin Nancy Camaldo noch mehr Geduld und Nachsicht haben. Sie hatte mit ihrer männlichen Hauptfigur weder das eine noch das andere. Wenn also die Autorin und Regisseurin nicht genug Interesse an der männlichen Figur hatte, um sie richtig auszuarbeiten, wie soll Schubert seine Rolle dann als vollständigen Charakter spielen?
 
 
Fazit
 
Vielleicht zahlen sich Geduld und Nachsicht mit Regisseurin und Autorin Nancy Camaldo irgendwann aus und wir können „Windstill“ im Rahmen einer Werkschau würdigen. Bis dahin fehlt es dem Film leider an vollständigen Ideen, an komplexen Charakteren und an Bildern die eine Story erzählen können. Der Film zeigt interessente Ansätze aber es fehlt einfach an Substanz.
 
 
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Weitere Informationen

  • Autor:in: Walter Hummer
  • Regie: Nancy Camaldo
  • Drehbuch: Nancy Camaldo
  • Besetzung: Giulia Goldammer, Barbara Krzoska